Skandinaviens älteste Stadt und ein ungewöhnliches ›Mädchen von Mandø‹


Text und Bilder: Hans Klüche

 

Wer bei Dänemarks Nordseeküste nur an Strand, Dünen und Ferienhäuser denkt, muss in Ribe, ganz im Südwesten des rotweißen Königreichs, umdenken: Keine dänische Stadt ist so von Geschichte geprägt. Hans Klüche hat sie erkundet, sich in zwei neuen Museen umgeschaut und auf der Suche nach Dänemarks größten frei lebenden Raubtieren die vorgelagerten Wattenmeer-Insel Mandø besucht, die nur im Rhythmus der Tiden zu erreichen ist.

Als Ribe, älteste Stadt Skandinaviens überhaupt, im Jahr 2010 das 1300-jährige Stadtjubiläum zelebrierte, plante Kopenhagen gerade einmal sein 850-jähriges. In Ribe trieben Wikinger Handel, hier drangen erste Missionare in die Welt von Odin und Thor ein, hier residieren seit mehr als 1000 Jahren Bischöfe. Im Mittelalter nutzte zudem die Krone eine Burg, wann immer der Regent mit seinem Reisehof vorbei kam. Von Schloss ›Riberhus‹ sind aber nur Wälle am Rande der Altstadt geblieben, darauf das Denkmal von Dagmar. Die böhmische Prinzessin heiratete 1205 den damaligen Dänenkönig Valdemar Sejr und wurde in ihrer Epoche zu einer Königin der Herzen. Bis heute ist ihr Name in Ribe allgegenwärtig, wie beim ältesten Hotel des Landes am Domplatz, und zweimal täglich klingt das Dagmar-Lied, ein melancholisches Volkslied über ihren frühen Tod, als Glockenspiel vom Bürgerturm des mächtigen Doms, der die malerische Altstadt weithin sichtbar überragt.




Geschichte quillt aus jeder Tür

Auf meinen Wegen durch Ribe spüre ich aus jeder Tür Geschichte in die Gassen quillen. Rund 100 Gebäude stehen im kleinen Zentrum unter Denkmalschutz, viele entstanden nach dem letzten Stadtbrand 1580. Als vor einigen Jahren der Domplatz neu gestaltet wurde, konnten Archäologen sich noch viel tiefer in Ribes meterdicke Kulturschichten wühlen. Die Resultate waren sensationell, in Details musste gar die Geschichte des Nordens umgeschrieben werden. So stammten eindeutig christliche Gräber aus einer Zeit gut 100 Jahre vor der bisher angenommenen Christianisierung des Landes und fanden sich Seite an Seite mit heidnischen Gräbern.
Tief im Boden wurden zudem Fundamente eines der ältesten im Norden nachgewiesenen Ziegelsteinbauten freigelegt, wohl das Speisehaus – dänisch ›Kannikegården‹ – der Kanoniker, der Domoberen. Den Namen trägt jetzt der Sitz der Domverwaltung, der so über die Fundamente gebaut wurde, dass man sie durch metertief in den Boden reichende Fenster von außen sehen und innen in einem von Tageslicht durchfluteten Kellerraum besuchen kann. Das hört sich paradox an, aber das Gebäude ist ein architektonischer Geniestreich: durch und durch modern, aber perfekt ins historische Domplatz-Ensemble integriert und die historischen Funde würdigend. Klasse!

 

Das Hier und Jetzt hinter historischen Fassaden

Ähnlich treffen überall in der Stadt Altes und Neues aufeinander: An der Fußgängerzone reihen sich hinter historischen Fassaden schnuckelige Shops mit Delikatessen wie Modefinessen, mit Danish Design wie Hygge-Utensilien, Cafés mit Cappuccino wie Carpaccio, Restaurants mit urbanen Edel-Burgern wie klassisch dänischem Stjerneskud. Dieser Mix aus Geschichte, Hygge und Livestyle lockt viel internationales Publikum – in Ribe hört man so viele fremde Sprachen wie sonst nirgendwo an der dänischen Nordseeküste, wo unter Urlaubern eher Deutsch dominiert.
Eine Perle der Altstadtbauten ist der Quedens Gård. Aus der Zeit von Johannes Harbo Quedens, der 1834 den Kaufmannshof übernahm, stammt noch der Schriftzug ›J.H.Quedens‹ in der klassizistischen Fassade zur Fußgängerzone hin. Dahinter residiert ›Quedens Gaard Café og Krambod‹, ein populäres wie hyggeliges Café kombiniert mit einem Laden für schöne oder leckere Souvenirs. Im Innenhof, den das Café an schönen Tagen als Biergarten nutzt, wird deutlich, dass dieser Quedens Gaard ein über vier Jahrhunderte aus immer neuen An- und Umbauten zusammen gewachsener Stadthof ist. Ein zauberhafter Rosengarten streckt sich auf der einen Seite bis ans Ufer der Ribe Å, zur anderen hangeln sich Bauten mit Renaissance-Fachwerk und jüngeren Klinkerfassaden einen ganzen Häuserblock an der schmalen Sortebrødregade entlang.

 

Vom Obdachlosen zum Präsidentenberater

Im unscheinbarsten Teil dieses Komplexes wuchs Mitte des 19. Jahrhunderts Jacob August Riis unter ärmlichsten Bedingungen auf, heute würdigt ihn dort das ›Jacob A. Riis Museum‹. Bevor das Museum öffnete, kannte selbst in Dänemark kaum jemand diesen Jacob, anders in den USA. Dort gilt Riis als bedeutendster Sozialreformer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und war Berater wie Freund des Präsidenten Theodore Roosevelt. Der ›adelte‹ ihn als »the best American citizen I ever knew«. Vorgegeben war ihm das nicht: An einer Wand im Museum sieht man Bilder seiner Eltern, darunter 12 Kreuze – Geschwister, die als Kinder oder junge Erwachsene starben. Im Alter von 21 Jahren wanderte Jacob dann als einer von rund 300 000 Dänen in die USA aus.

Nach einer Leidenszeit als Obdachloser im Schmelztiegel New York, bekam er schließlich einen Job als Polizeireporter, wurde Bestsellerautor, füllte später als Vortragsredner große Hallen im ganzen Land und wurde schließlich Präsidentenberater. Das Museum zeigt aber nicht nur wie sich sein amerikanischer Traum verwirklichte, sondern dokumentiert mit einer Auswahl seiner berührenden Fotos, von denen leider nur rund 450 im Original erhalten sind, ein düsteres New York Ende des 19. Jahrhunderts. In den Slums von Manhattan hatte Riis immer wieder seine Kamera auf Armut und Elend der Wirtschaftsflüchtlinge aus Dänemark, Deutschland und Italien gerichtet – ein Vorreiter sozialdokumentarischer Fotografie und Reportagen. Er selbst redete sein fotographisches Schaffen oft ›klein‹: »I am no good at all as a photographer«. Da muss ich widersprechen: Er war großartig!  Und Riis' Motto ist bis heute doch aktuell: »Armselige Einwanderer sind nicht als Menschen schlecht, sondern nur ihre Lebensumstände und von deren Verbesserung wird die gesamte Gesellschaft profitieren.«

 

Männer auf dem Scheiterhaufen

Im ersten Pandemiesommer 2020 öffnete im Quedens Gaard ein zweites Museum: "HEX! Museum of Witch Hunt" über Hexenverfolgungen, -prozesse und -verbrennungen. Immerhin fand in Ribe Dänemarks spektakulärster Hexenprozess um die Schneidersfrau Maren Spliid statt, bei dem sogar der protestantische König gegen sie Partei ergriff. An ihrem ehemaligen Wohnhaus nicht weit vom Dom lese ich auf einer Gedenktafel: »Hier wohnte Schneider Laurids Spliid, dessen bedauernswerte Frau Maren am 9. November 1641 auf dem Galgenhügel von Ribe wegen Hexerei verbrannt wurde.«
Das modern konzipierte Museum nutzt eine Audiotechnik, die jedem Besucher individuell alle Erklärungen auch auf Deutsch liefert. Mal beeindruckend, mal skurril sind Exponate wie die Totenhand, mit der sich Hexen angeblich unsichtbar machten oder Daumenschrauben, die in Ribe tatsächlich als Folterinstrumente benutzt wurden. Überrascht war ich von Fakten, die ich so nie erwartet hätte: Europas Mitte und Norden erlebten mehr Hexenverfolgung als der Süden; in Dänemark wurde immer erst nach einem Geständnis gefoltert, um dann mehr über dunkle Umtriebe und Namen von Helfern zu erfahren; in Nordeuropa war der Anteil der Männer, die wegen Hexerei angeklagt, verurteilt und verbrannt wurden, auffällig hoch.

 

Acht Quadratkilometer Land, 10 Kilometer Deiche: Mandø

Ribe vorgelagert liegt Mandø mitten im UNESCO Welterbe Wattenmeer, muss aber, anders als die großen Nachbarinseln Rømø und Fanø, ohne kilometerbreite Sandstrände auskommen. Eigentlich wollte ich nachmittags mit Mandø Bussen ›übersetzen‹. Der Treckerbus fährt bei Niedrigwasser vom Festland durchs Watt zur Insel. Zurück sollte mich später das Amphibienfahrzeug ›Mandøpigen‹ an einer Robbenkolonie vorbei zur Ribe Kammersluse bringen. Aber früh am Morgen kam eine Mail, dass die geplante Rückfahrt der miesen Wetterprognose zum Opfer falle. Wenn ich rechtzeitig da wäre, könne ich noch vor dem Mittag auf eine Robbensafari gehen.
Also rein ins Auto und über den Låningsvej, einer rustikalen, ebenfalls nur bei niedrigem Wasserstand befahrbaren Schotterpiste, nach Mandø. Dort wartet schon ›Mandøpigen‹ auf einer Wiese direkt am Ufer, davor das weite Watt.  ›Das Mädchen von Mandø‹ hat Skipper Poul Erik Fredskild eigenhändig entworfen. Der Ingenieur arbeitete schon als Maschinist auf großen Pötten sowie auf Offshore-Plattformen und lebt heute als ›Eingeheirateter‹ auf Mandø. Seine moderne Version einer Wattschute baute eine Werft in Holland auf Basis von Schiffen, die auf Muschelfarmen zum Einsatz kommen. Nur bekam Mandøpigen auch Räder: Auf Land oder in extrem flachem Wasser erhebt sie sich gemächlich mit hydraulischer Hilfe und fährt auf dicken Stollenreifen weiter. Auch sonst braucht Amphibienfahrzeug kaum Wasser unterm Kiel. Es nutzt einen Jetstream Antrieb statt Schiffschrauben und kann mit seinem extrem flachen Boden problemlos auf Sand aufsetzen.

 

Austern satt von Oktober bis April

Mit Mandøpigen macht Poul Erik Ø-hop-Touren zwischen Rømø, Mandø und Ribe, bei denen sogar Fahrräder transportiert werden, was ungewöhnliche Routen für Radtouren im Nationalpark Wattenmeer erlaubt. Außerdem bietet er Robben- und in der kalten Jahreszeit Austernsafaris – als invasive Art können die Gourmet-Muscheln ohne Beschränkungen gesammelt werden.
Zwischen Fanø, dessen flache Silhouette ich im Norden ahne, und Mandø strömen zweimal am Tag gigantische Wassermassen ins Watt hinein und wieder zurück, darin Abertausende Fische – ein Schlaraffenland für Seehunde und Kegelrobben, die größten wildlebenden Raubtiere Dänemarks. Bis zu sechs Zentner schwer werden die Bullen. Vor Fanøs Südspitze räkeln sich Dutzende Exemplare beider Arten auf einer langgestreckten Sandbank, an der wir entlang dümpeln. Fixiert man die bräsig im Sand liegenden Robben, scheint Mandøpigen fast zu stehen, aber blickt man vorn über die Reling, sieht man eine Bugwelle – wir fahren gegen auflaufendes Wasser. Poul Erik ahnt was ich denke: »Keine Sorge! Mit dem Jetsteam schaffen wir 25 Knoten, viel, viel schneller als hier im Nationalpark erlaubt. Da ist noch reichlich Luft nach oben!«.

 

Dänemarks größte Raubtiere zum Greifen nah

Zu einer Kolonie Seehunde auf der Sandbank hält Poul Erik das Schiff bewusst auf Abstand. Er hat durchs Fernglas Jungtiere entdeckt und die sollen nicht aufgeschreckt werden. Zwei, drei Dutzend der deutlich größeren Kegelrobben stürzt sich wenig später aber mit viel Gespritze ins Wasser und kommen auf uns zu. Einige nähern sich fast zum Greifen nah dem Boot, starren uns neugierig über ihre langgestreckten Nasen an – wir an Bord starren begeistert zurück. Kameras klicken. Handys filmen.   
Kurz bevor das Wetter umschlägt sind wir wieder auf Mandø, passend zum Frokost mit Wattenmeer Leckereien im Café Mandøpigen. Dort hat Poul Eriks Frau Karin das Ruder in der Hand. Auf der Insel aufgewachsen ist sie ein echtes Mandøpige. Boot, Café und ein paar schmucke B & B Appartements in der umgebauten Scheune von Karins Familienhof verschaffen den beiden das Auskommen,  auf der sonst unter Bevölkerungsschwund leidenden Insel – zuletzt 35 Einwohner, ein Laden, keine Schule – zu leben.

 

10.000 Jahre alte Rentiergeweihe als Hutständer

Nach dem Essen habe ich zwei Stunden, Mandø zu erkunden, früher gibt das Hochwasser den Låningsvej nicht frei. Für einen Spaziergang ist das Wetter jedoch zu mies geworden, so mache ich trotz  kurzer Wege Sightseeing mit dem Auto. Waagerecht gegen die Scheiben peitschende Schauer beruhigen mein Gewissen. In der Mandø Kirke – klein, schlicht, flach und aus dem 17. Jh. – hängen vier schmucke Votivschiffe unter der Decke, typisch für Inselkirchen. Rätselhaft sind jedoch Rentiergeweihe, früher als Hutständer genutzt: Per C14-Methode wurde ihr Alter auf 10 000 Jahre datiert – wahrscheinlich hat sie ein Seemann während einer Walfangreise auf Spitzbergen gefunden und mit nach Hause gebracht.
Im Dorfladen, dem Mandø Brugs, kaufe ich später Süßes gegen den Wetterfrust und plaudere mit der Frau hinter dem Tresen über Insel, Wetter, Gott und die Welt bis sie plötzlich auf einen alten Lada Niva zeigt, der vor der Tür kurz hupt: »Jetzt kannst Du fahren. Das war meine Nachbarin, die kommt gerade aus Ribe. Dann ist der Weg wohl frei!« Wenig später holpere ich über den Låningsvej Richtung Festland. Alle paar Meter spritz Wasser – ist das noch salziges Meerwasser oder schon Regenwasser? –  aus großen Pfüfzen bis zur Windschutzscheibe hoch. Da wundert es mich, wie viele Autos mir auf dieser rauen Piste abseits aller Hauptstraßen entgegen kommen. Hier sorgen wohl die Tiden für die Rushhour.

 

Infos

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Recherche für einen ähnlichen Text im NORDIS Skandinavien Reisehandbuch 2022. Hans Klüche schreibt regelmäßig für das Magazin NORDIS - Das ist Skandinavien über dänische Themen und hat mehrere Reiseführer über das Land veröffentlicht, mehr dazu auf www.hans-klueche.de

















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